Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Leute ohne Laster auch sehr wenige Tugenden haben.
Weiß nicht, ob ich Abraham Lincoln hier Recht geben kann. Ich für meinen Teil habe viele Laster. Hab ich dann im Umkehrschluss auch viele Tugenden? Hm.
Vielleicht werden Tugenden auch überbewertet. Was soll das auch? Legst du zum Beispiel viel Wert auf Pünktlichkeit und erscheinst grundsätzlich als erster zum Termin, wirst du irgendwann durch die Unpünktlichkeit anderer irgendwann selbst elegante 15-20 Minuten später kommen als ausgemacht. Selbst wenn dich das Überwindung kostet.
Das nennt man Lebenserfahrung. Hast du dir als Kind die Hand an der Herdplatte verbrannt, weil du nicht hören wolltest? Gut so, wird dir noch oft passieren. Immerhin besser als Gehorsamkeit. Die verbrannte Hand und das gebrochene Herz werden heilen.
Aber sollte man sich nicht irgendwann von unsinnigen Moralvorstellungen lösen und sich anpassen? All jene, noch so ethisch bedenkliche Verhaltensweisen der Menschen, die dir im Laufe deines Lebens über den Weg laufen, übernehmen?
Ich hab’s gegooglet. Heraus kam: Alles ist moralisch, nur die Moral nicht.
Also lautet die Formel: nimm das, was du immer für wichtig erachtet hast und dividiere es durch den Wert der Masse. Nicht, dass ich hier Einsteins Relativitätstheorie infrage stellen will, aber eigentlich wäre es dann t geteilt durch m-ist-mir-doch-scheißegal-im-Quadrat=c.
Relativ gesehen kommt es doch letztlich nicht auf das von Klein auf erlernte an, sondern auf die Gesellschaft, in der du lebst.
Ok, ich bin mal wieder kryptisch in meiner Formulierung. Deshalb versuche ich es mit den Worten meiner Freundin E: „Auf den Alkohol – den Ursprung und die Lösung aller Probleme“. Ok, den Spruch hat sie einem zeitgenössischen Philosophen namens Homer Simpson geklaut, aber letztlich ist er doch sehr treffend. Ursprung und Lösung sind oft ein und das Selbe. Ein Laster. Keine Tugend. In diesem Sinne:
Satan is happy with your progress.
indeed! stimme zu 100% zu.
Nun ist es aber nun mal so, dass du in einer Gesellschaft lebst, in der die meisten Menschen das Gleiche von klein auf gelernt haben. Und noch dazu unterscheiden sich die Gesellschaften, in denen man leben könnte, nur marginal in ihren Konventionen. Also passt das Erlernte eigentlich ganz gut zur Gesellschaft, der Lernprozess soll dich ja auf eben diese Gesellschaft vorbereiten.
Und Konventionen müssen doch zum Schutz des Einzelnen immer etwas restriktiver sein als nötig. Die große Herausforderung besteht dann darin, zu erkennen, welche Konventionen gefahrlos missachtet werden können, da es niemandem schadet, und welche schlichtweg notwendig sind zum Erhalt des gesellschaftlichen Friedens. Wenn dich die Gesellschaft nicht interessiert, dann kannst du alles über Bord werfen und einsam weiterleben, oder du kannst versuchen, dich in deinem Mikro-Kosmos, mit Gleichgesinnten, von gewissen Einengungen loszusagen. Das geschieht ja heute permanent, die Moral wandelt sich, leider nicht notwendigerweise zum Guten, und sie wandelt sich für manche viel zu langsam. Ob du durch Alkoholkonsum einen solchen Wandel beschleunigen kannst, oder der Konsum dir hilft, über Konventionen hinwegzukommen, mag ich nicht glauben, noch dazu liegt mir ein guter Alkohol viel zu sehr am Herzen als dass ich ihn für solche Dinge missbrauchen würde.
Ob dieser Wandel aber heißen soll, dass man ethisch bedenkliche Verhaltensweisen übernimmt, wage ich stark zu bezweifeln. Unser „sittliches Verständnis“ hat sich ja nicht ganz grundlos etabliert – es schützt dich vor anderen und andere vor dir. Da wo es überholt erscheint, hol es aus deinem Kopf. Nur leider hilft ja das alleine noch nicht viel, denn du hast Menschen um dich herum, an denen dir liegt, die aber diesen Schritt nicht mitgehen wollen oder können. Und schon bist du wieder in der Gesellschaft und der Konvention gefangen – in diesem Sinne: Die Gedanken sind frei, aber in deinen Handlungen wirst du weitestgehend gefangen bleiben. Schritt für Schritt auszuloten, welche Konventionen das Leben unlebenswert machen und was man selbst gewillt ist aufzugeben, um diese Konventionen zu durchbrechen, sehe ich als den Sinn des Lebens an.
R., chapeau. dem ist nichts hinzuzufügen.
Merci Lulu, auch wenn ich tatsächlich noch viel hinzuzufügen hätte �
@R: Vielen Dank für dein aufschlussreiches Feedback! Bin verwundert aber auch sehr geschmeichelt, dass mein – aus einer Laune heraus – dahingeschriebener Gedankenwirrwarr einen solch klugen Kommentar erhält.
Ist nicht der Sinn eines solchen Blogs, durch Provokation und Überspitzung andere zum Nachdenken und Kommentieren zu animieren. Und schon die Tatsache, dass sich jemand Gedanken macht und äußert, so wie du, egal ob logisch-analytisch oder spontan-emotional, ist in unserer Gesellschaft doch schon eines Kommentares wert. In diesem Sinne, weiter so!
Ich finde deine Gedankengänge immer wieder sehr faszinierend, insbesondere diese Diskrepanz zwischen morbider Endzeitstimmung und tiefer Frustration auf der einen Seite, und der schillernden, vom Leben verwöhnten und begehrten Frau auf der anderen Seite. Eine gespaltene Persönlichkeit also, oder ein geistiges Chamäleon, dass sich aus einer Laune heraus, der Provokation willens, in Extreme begeben kann?